Mazedonien ist unversehens zum Frontstaat gegen Flüchtlinge auf dem Weg nach Westeuropa geworden. Dabei kämpft das verarmte Balkanland selbst schon seit langem mit schweren Problemen. Die Regierung ist autoritär, Medienfreiheit existiert nur auf dem Papier. Vor allem junge Leute verlassen deshalb in Scharen das Land.
Als Vasko Cacanovski das letzte Mal eine Aufbruchsstimmung in Mazedonien spürte, das war, er hatte kurz überlegen müssen, wohl vor zehn Jahren. Mit dem neu gewählten Premierminister Nikola Gruevski hatte eine frische Generation von Politikern die Bühne betreten, viele der neuen Minister waren gerade einmal Anfang 30 und in der heimischen Öffentlichkeit kaum bekannt. Doch zehn Jahre später herrscht vor allem unter jungen Menschen Depression, Apathie und Hoffnungslosigkeit. Insofern sie überhaupt noch da sind, sagt Vasko: „Gut die Hälfte derjenigen, die mit mir das Studium abgeschlossen haben, leben inzwischen im Ausland.“
Dabei sind es nicht nur wirtschaftliche Gründe, die junge und gut ausgebildete Menschen aus dem Land treiben. Vasko arbeitet in einem Telekommunikationsunternehmen, seine Mittagspause verbringt er in einem Cafe, direkt am Fluss Vadar, der sich mitten durch Skopje zieht. Gegenüber liegt die pitoresk-osmanisch geprägte Altstadt, aus der Ferne dringt Baulärm herüber. „Skopje 2014“ heißt das gigantische Projekt der Regierung, mit dem das Zentrum der Hauptstadt einem beispiellosen face-lifting unterworfen wird: durch den Neubau oder die Verkleidung von öffentlichen Gebäuden mit neobarocken und klassizistischen Elementen und antiken Säulen. Brücken und Triumphbögen werden gebaut sowie unzählige Denkmäler und Statuen errichtet. Nationales Selbstbewusstsein soll das ausstrahlen. Für Vasko kommt darin jedoch nur der selbstherrliche Stil von Premierminister Gruevski zum Ausdruck, der das Land seit zehn Jahren autoritär und mit zunehmend kriminellen Methoden regiert.
Tatsächlich hat sich das kleine Balkanland Mazedonien fast unbemerkt von einem Musterknaben in der Region zum Problemfall entwickelt. Intellektuelle und Menschenrechtsaktivisten wie Xhabir Deralla von der Organisation „Civil“ sprechen von einem „System Gruevski“, um die Kaperung des Staats durch die politische Elite zu beschreiben, die vor allem ihren eigenen Interessen, ihrer Familien und Freunde dient. Als erstes wurden nach und nach die Anzahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst von 80.000 auf etwa 180.000 angehoben. Sie stellen die Machtbasis des Systems dar: alte oder künftige Parteimitglieder und deren Familienangehörige, die sich bei Wahlen regelmäßig mit einem Kreuz an der richtigen Stelle bedanken, um ihre Privilegien nicht zu verlieren. Gleichzeitig wurden alle Institutionen des Staates und der Gesellschaft unter die Kontrolle der Regierung gebracht, vor allem die Justiz und die Medien, flankiert von einer immer aggressiveren nationalistischen und religiösen Propaganda. Die wenigen Kritiker, die öffentlich überhaupt noch zu Wort kommen, werden regelmäßig als Verräter oder als vom Ausland bezahlte Agenten diskreditiert.
(...)
Weiterlesen: Eine Welt