Trotz Milliardenhilfe ist Kosovo auch zehn Jahre nach seiner Unabhängigkeit das ärmste Land Europas und gilt noch immer als unfertiger Staat: Sowohl was seine internationale Akzeptanz als auch die vollständige Integration der serbischen Minderheit angeht.
Marko Bogdanović sitzt in einem Cafe an der Hauptstraße von Gračanica; vor ihm auf dem Tisch liegen zwei Handys: eines mit kosovarischer Vorwahl, das andere mit serbischer. Die beiden Anschlüsse sind ein Sinnbild für das Doppelleben, das die Serben im Kosovo führen. Gerade war der 40-jährige Polizist aus dem gegenüberliegenden Gebäude gekommen, der Polizeistation der „Republik Kosovo“, wie unmissverständlich über dem Eingang steht. Aber wenn man ihn fragt, in welchem Land er lebt, muss er nicht lange nachdenken: „In Serbien“, sagt er mit einer Bestimmtheit, die kaum einen Zweifel verrät. Doch auch auf seiner Uniform prangt das Staatswappen Kosovos. „Was sollen wir machen?“, fragt er. „Wir müssen uns arrangieren“. Aber dass er deshalb Kosovo als Staat anerkennen würde - den Staat, dessen Uniform er trägt und von dem er sein Gehalt bezieht? Niemals!
In diesem seltsamen Zwiespalt leben praktisch alle der etwa 100.000 Serben, die nach Kriegsende 1999 im Kosovo geblieben sind - etwas weniger die Hälfte wohnt im Norden des Landes an der Grenze zu Serbien, der Rest über das Land verteilt in sogenannten „Enklaven“, umringt von der albanischen Bevölkerungsmehrheit. Mit etwa 10.000 Einwohnern ist Gračanica die größte. Überall wird serbisch gesprochen, in den Cafes dröhnt serbische Musik. Und als vor zehn Jahren in der nur zehn Kilometer entfernten Hauptstadt Pristina die Unabhängigkeit gefeiert wurde, war es in Gračanica ruhig geblieben - ein ganz normaler Tag, erinnert sich Marko Bogdanović.
Und doch hat sich auch für die Serben seitdem viel geändert. Um das zu unterstreichen, legt Marko Bogdanović seine beiden Personalausweise neben die beiden Handys. Alle Einwohner Gračanicas haben inzwischen neben ihrem serbischen auch einen kosovarischen Pass, sie sind damit offiziell Bürger Kosovos. Ihre Autos fahren mit kosovarischen Kennzeichen, und der Bürgermeister Gračanicas wurde durch kosovarische Kommunalwahlen bestimmt. Aber auch der serbische Staat ist immer noch vielfach präsent: Bogdanovićs Kinder, elf und 12 Jahre alt, gehen in eine serbische Schule. Gelernt wird dort nach serbischen Lehrplänen, und die Lehrer erhalten ihr Gehalt direkt aus Belgrad. Das gilt auch für die Krankenstation und das Kulturzentrum. Und wenn Marko Bogdanović nach Dienstschluss nach Hause kommt, schaut er - natürlich - serbisches Fernsehen.
Die Doppelpräsenz zweier Staaten führt zu allerlei Absurditäten. So gibt es neben dem kosovarischen auch einen von Serbien eingesetzten Bürgermeister, es gibt zwei Straßenreinigungen und zwei Postämter. Will Marko Bogdanović etwa einen Brief innerhalb Kosovos verschicken, geht er zur kosovarischen Post. Sollen hingegen die Verwandten in Serbien ein Paket erhalten, muss er zum wenige hundert Meter entfernten Postamt von Serbien. Denn weil Belgrad die Unabhängigkeit Kosovos nicht anerkennt, kann es aus serbischer Sicht auch keine kosovarischen Briefmarken geben. Und worüber Marko Bogdanović nicht gerne spricht, was aber ein offenes Geheimnis ist: Viele bekommen auch doppelte Gehälter, ein kosovarisches und eins aus Serbien. Durch die vielfältigen Zahlungen markiert Serbien auch weiterhin seinen Anspruch auf seine ehemals südserbische Provinz.
Für die lokale serbische Bevölkerung bedeutet das ein Leben zwischen den Stühlen. Sie sind zwar formal und auch sonst in vielerlei Hinsicht Bürger des neuen Staats Kosovo, aber ihr Blick bleibt auf Belgrad gerichtet. Mit dem kosovarischen Staat wollen sie so wenig zu tun haben wie möglich.
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